KW 8/2018

Zukunftstechnologie

Verwandlung auf Knopfdruck

Der neue Antrieb im Windkanal
Der neue Antrieb im Windkanal
Es wirkt wie Magie, ist aber reine Physik: Metallteile, die ein Gedächtnis haben und sich ihre Form merken. Kühlt man Sie ab oder erwärmt man sie, nehmen sie die ursprüngliche Form wieder an. Demonstriert wird das oft anhand einer Büroklammer: Egal, wie man sie verbiegt – taucht man sie anschließend in temperiertes Wasser, springt die Klammer binnen Sekunden in ihre ursprüngliche Form zurück. Dieser verblüffende Effekt wird durch sogenannte Formgedächtnislegierungen möglich. Die in Nordrhein-Westfalen gelegene, internationale Forschungseinrichtung ETW European Transonic Windtunnel GmbH macht sich diese intelligenten Werkstoffe zunutze – und beschleunigt damit Windkanaltests für Flugzeuge um ein Vielfaches.

ETW vermisst in seinem Windkanal die Strömungen und Lasten, denen Flugzeuge bei Start, Landung und im Reiseflug ausgesetzt sind. So wird getestet, welche Flugeigenschaften zukünftige, in der Entwicklung befindliche Flugzeuge später im Betrieb unter Realbedingungen haben werden. Für die Tests verwendet ETW allerdings keine echten Flugzeuge, sondern Modelle, die im Schnitt etwa 25-fach kleiner sind als ihre Vorbilder. Um dennoch realitätsnahe und strömungsmechanisch ähnliche Bedingungen wie bei einem großen Flugzeug zu erreichen, werden die Modelle bei bis zu 4,5-fachem Atmosphärendruck und Tiefsttemperaturen von -160 Grad Celsius in reinem Stickstoffgas getestet.

Bewegung wie von Geisterhand

Die Tests im ETW sind heute Standard bei der Entwicklung neuer Flugzeuge. Dabei muss auch die Wirkung von verstellbaren Steuerflächen getestet werden, etwa von Querrudern oder Bremsklappen. Deren Verstellung ist bislang wegen der unwirtlichen Bedingungen im Kanal aufwändig. Denn um die Position einer Klappe zu verändern, muss der Test unterbrochen, der Kanal geöffnet und das Modell in eine spezielle Klimakammer transportiert werden, wo die Bremsklappe von Hand umgebaut werden kann. Bis das Modell zurück im kalten Windkanal ist, vergeht gut ein halber Tag und es entstehen Kosten von 30.000 oder mehr. Bei Untersuchungen zur Wirkung von Steuerflächen an einem Mittelstreckenflugzeug können einige hunderttausend Euro und Verzögerungen des Testprogramms von einigen Tagen zusammenkommen, die durch eine Fernverstellung der Klappen vermieden werden könnten.

Ein wegweisendes Projekt von der Deharde GmbH in Varel und ETW revolutioniert diesen aufwändigen Prozess mit Hilfe der Fernverstellung auf Basis von Formgedächtnislegierungen: Das Team hat einen Mechanismus entwickelt, der Steuerflächen am Flugzeug im Windkanal per Knopfdruck bewegen kann. Dabei wird der Aktuator aus der Formgedächtnislegierung auf eine bestimmte Temperatur erwärmt und die Klappe nimmt wie von Geisterhand eine andere definierte Stellung ein. Was bislang einen halben Tag gedauert hat, ist nun binnen Sekunden möglich.

LuFo-Förderung macht wegweisendes Projekt möglich

ETW und Deharde erforschen den Einsatz von Formgedächtnislegierungen im Windkanal seit 2016 in Zusammenarbeit mit Boeing und der NASA. Im Januar 2018 hat das Projekt den Boeing Performance & Innovation Award erhalten. Der Preis wird an Teams vergeben, die die Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität von Boeing deutlich steigern.

Ein Prototyp des neuen Antriebs wurde im Pilotwindkanal von ETW bereits erfolgreich getestet. Das Ziel: In einigen Jahren soll das Verfahren standardmäßig bei Windkanaltests eingesetzt werden und die aufwändigen Umbaumaßnahmen überflüssig machen. Und: Die extrem robuste und kompakte Technologie könnte von Deharde auch auf andere Bereiche übertragen werden – und immer da zur Anwendung kommen, wo nur geringer Bauraum zur Verfügung steht oder aggressive Umfeldbedingungen die Funktion von Motoren beeinträchtigen würden. Plakatives Beispiel: Lüftungslamellen in einem Chemikalienlager oder Brandschutzklappen in einem Ex-Bereich.

Möglich wurde das Projekt nur dank der finanziellen Förderung im Rahmen des deutschen Luftfahrtforschungsprogramms LuFo. Der Erfolg zeigt einmal mehr, welche positive Wirkung die Forschungsförderung entfaltet.